Steppennomaden vererbten Gene für Multiple Sklerose
27.02.2024
Überall in Europa, wo sich das Hirtenvolk der Jamnaja stark ausbreitete, sind Risikogene für Multiple Sklerose (MS) besonders häufig zu finden, berichtet ein internationales Forscherteam in einer aktuellen Studie. Entsprechende Genvarianten kommen vor allem bei Nord- und Mitteleuropäern vor. Dabei sind die vererbten Gene das Ergebnis einer evolutionären Anpassung an die Umwelt: Sie sorgten für eine starke Immunabwehr und schützten die steinzeitlichen Hirten vor Infektionen durch die eigenen Tiere.
Die Jamnaja wanderten vor 5000 Jahren aus dem Gebiet zwischen Donau und Ural (der sogenannten pontisch-kaspischen Steppe) nach Europa ein. Die steinzeitlichen Hirten brachten Genvarianten für ein hochaktives Immunsystem mit, das sie vor Infektionen durch Nutztiere wie Schafe, Ziegen und Rinder schützte, mit denen sie eng zusammenlebten.
Eine Begleiterscheinung dieses starken Immunsystems ist ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen. So sind 2023 weltweit mehr als 2,9 Mio. Menschen weltweit an MS erkrankt. In Europa kommen durchschnittlich rund 143 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner vor. Statistische Erhebungen zeigen für Norwegen und Deutschland 255 bzw. 300, für Griechenland 178, für Portugal und Russland 64 bzw. 55 Fälle pro 100.000 Einwohner.
Die Forscher gehen davon aus, dass das genetische Erbe der Jamnaja bis heute nachwirkt. MS ist in Nordwesteuropa weit verbreitet, und viele der dort lebenden Menschen sind Nachfahren des nomadischen Hirtenvolks. Die Autoren schreiben, „dass diese genetische Abstammung heute das größte genetische Risiko für MS darstellt und dass diese Varianten das Ergebnis einer positiven Selektion sind, die mit der Entstehung des Hirtenlebens in der pontisch-kaspischen Steppe zusammenfiel und sich in den späteren gemischten Populationen in Europa fortsetzte“.
Umweltveränderungen
In der Stein- und Bronzezeit nahm laut den Studienautoren die Häufigkeit von Infektionskrankheiten beim Menschen massiv zu. Neben der Zunahme der Bevölkerungsdichte sei dies auf den Kontakt mit domestizierten Tieren und damit mit alten und neuen Krankheitserregern zurückzuführen, „was die Selektion von Varianten in Immunantwortgenen begünstigte, die heute mit Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht werden“.
„Unsere Daten deuten darauf hin, dass in der Vergangenheit Umweltveränderungen, die durch Innovationen in der Lebensweise hervorgerufen wurden, unbeabsichtigt zu einer Erhöhung des genetischen Risikos für MS geführt haben könnten“, schreibt das Autorenteam. Gemeint ist, dass die Menschen heute nicht mehr mit ihren Nutztieren zusammenleben und sich die hygienischen Bedingungen stark verbessert haben. Auch leistet die moderne Medizin ihren Beitrag, um gesund zu bleiben. Die ererbten Gene aus der Steinzeit sind aber nach wie vor auf hohe Aktivität programmiert. Dies könnte dazu führen, dass das Immunsystem in einer Überreaktion die eigenen Nervenzellen angreift.
Die Forscher untersuchten die Genome von 1600 Eurasiern aus der Stein- bis zur Bronzezeit und stellten die Ergebnisse in einer Datenbank zusammen. Die ältesten untersuchten Proben waren 34.000 Jahre alt. Das Erbgut verglichen sie mit DNA-Proben von 400.000 modernen Menschen. So können sie nicht nur Wanderungsbewegungen und Abstammungslinien rekonstruieren, sondern auch Erkenntnisse über körperliche Merkmale oder Krankheitsrisiken gewinnen.
230 Genvarianten für MS
So fanden sie mehr 230 Risikogenvarianten für MS. Unterdessen haben Sammler und Jäger aus Osteuropa Genvarianten mit erhöhtem Risiko für Alzheimer und Typ-2-Diabetes weitergegeben, während Ackerbauern Risikogene für psychische Störungen an ihre Nachkommen vererbten.
Das späte Neolithikum und die Bronzezeit stufen die Studienautoren als kritische Periode in der Geschichte der Menschheit ein: Während dieser Zeit entwickelten und vermischten sich genetisch und kulturell stark divergierende Populationen: „Diese unterschiedlichen Entwicklungen sind wahrscheinlich für das genetische Risiko und die Prävalenz verschiedener Autoimmunkrankheiten verantwortlich. Erstaunlicherweise könnte das Aufkommen des Hirtenlebens einen ebenso großen oder sogar größeren Einfluss auf das Immunsystem gehabt haben als das Aufkommen des Ackerbaus während des Übergangs zur Jungsteinzeit, der allgemein als die größte Veränderung der Lebensweise in der Geschichte der Menschheit angesehen wird.“
Hier findet sich ein interaktiver Atlas zur Prävalenz von MS. Mit diesem Werkzeug lassen sich u.a. die Daten einzelner Länder abrufen.
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