Schlauer Vogel: Nervenzellen zählen, nicht die Größe
31.07.2024
Komplexe Denkvorgänge erfordern ein großes Gehirn und das Vorhandensein eines Neocortex (Großhirnrinde) – so die gängige Meinung. Warum sind Rabenvögel und Papageien dann so schlau? Ihre Gehirne sind klein und ohne kortikalen Schichtaufbau. Trotzdem erkennen sie sich im Spiegel, bauen Werkzeuge, planen für die Zukunft – so wie das Schimpansen können. Dies liegt an der Zahl der Neuronen und ihrer strukturellen Organisation und weniger an der Größe des Gehirns, betonen Bochumer Forscher in ihrer aktuellen Studie.
Zum Vergleich: Schimpansenhirne wiegen rund 400 Gramm (g), Vogelhirne dagegen nur eins bis 25 g. Offenbar kommt es nicht so sehr auf die Größe des Gehirns an, sondern auf die Menge der Nervenzellen (Neuronen) an. Davon besitzen Vögel sehr viel mehr als vermutet. Ebenso auffällig sind bestimmte weitreichende Hirnareale, die ähnlich organisiert wie der Cortex von Säugern und auf Abstraktion und Planung spezialisiert sind. Darauf weisen Güntürkün und seine Kollegen Roland Pusch und Jonas Rose in ihrer vergleichenden Studie hin.
Sie verweisen ebenfalls auf eine andere Studie, die zeigt, dass Vögel doppelt so viele Neuronen pro Gehirnvolumeneinheit besitzen wie Primaten und bis zu viermal mehr als Nagetiere. Da Neuronen die Recheneinheit des Gehirns sind, sollten mehr Neuronen pro Gramm Gehirn eine höhere Verarbeitungskapazität ermöglichen. Die Neuronen der Hirnrinde (Pallium) sind für eine flexible Kognition besonders wichtig, da sie Gehirnprozesse auf ein gemeinsames Ziel hin orchestrieren können. Während der Anteil der kortikalen Neuronen bei Primaten 19 Prozent beträgt, liegt er bei Papageien und Singvögeln 62 bzw. 78 Prozent.
Die hohe Neuronenzahl ist aber nur ein Teil der Erklärung. Die flexible Kognition der Vögel könnte besonders mit der Anzahl assoziativer Neuronen zusammenhängen, die zwischen sensorischen (Sinneseindrücken) und motorischen (Bewegung) Systemen liegen. So haben einige Krähenarten mehr Neuronen in ihren assoziativen Cortexbereichen als Hühner, Tauben oder Strauße.
Lernfähige Tauben
Besonders auffällig ist der Unterschied zwischen Rabenvögeln und Straußen: Krähen haben doppelt so viele assoziative Neuronen, obwohl ihr Gehirn 2,5-mal und ihr Körper mehr als 200-mal kleiner ist. Die Zahl der assoziativen Neuronen bei Raben entspricht in etwa der Zahl der präfrontalen Nervenzellen bei Schimpansen.
Auch Tauben und Hühner können komplexe Aufgaben lösen, betonen die Forscher. Das beweist Onur Güntürkün von der Universität Bochum. Sein Spezialgebiet ist die Kognitive Neurowissenschaft. Dabei erforscht er den Zusammenhang zwischen Gehirn und Verhalten. Zu seinen bevorzugten Probandinnen gehören Tauben. In Experimenten lernten die Tiere Rechtschreibregeln und erkannten anschließend Tippfehler in den Wörtern, die ihnen präsentiert wurden.
Die Bochumer Forscher schließen aus ihren und anderen Studien, dass ähnliche geistige Prozesse ablaufen, wenn Vögel und Säugetiere kognitive Aufgaben lösen. Innerhalb der Gruppe der Vögel erreichen vor allem Raben und Papageien ein kognitives Leistungsniveau, das dem von Menschenaffen entspricht. Dazu gehören Fähigkeiten wie die Vorhersage zukünftiger Begegnungen, die Ableitung von Kausalitäten aus Beobachtungen, die Fähigkeit, sich in der Perspektive anderer hineinzuversetzen oder die Flexibilität, erlernte Regeln auf andere Aufgaben zu übertragen.
Funktionelle Netzwerke
Die Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass sich die komplexe Kognition von Vögeln und Säugetieren parallel und unabhängig voneinander entwickelt hat. Sie schlagen folgende vier Merkmale für eine hohe neuronale Leistungsfähigkeit vor:
- eine große Anzahl assoziativer Rindenneuronen,
- die ähnlich dem präfrontalen Cortex organisiert sind,
- ein dichtes Nervenfasergeflecht des assoziativen präfrontalen Areals, das mit dem Neurotransmitter Dopamin arbeitet und Rückmeldungen über Erfolg oder Misserfolg von Entscheidungen liefert, so dass die neuronalen Rechenprozesse ständig angepasst werden können,
- ein (den Säugern ähnliches) Arbeitsgedächtnis mit einem flexiblen Aktivitätsmuster der Nervenzellen. Dies ermöglicht es den Tieren, sich kurzfristig viele Informationen gleichzeitig zu merken.
Kognition wird bei Säugetieren nicht durch hochspezialisierte Neuronen in einer bestimmten Hirnregion ermöglicht, sondern durch funktionelle Netzwerke, die temporär und kontextabhängig aktiviert werden. „Die Studien zeigen auch, dass kognitive Prozesse bei Vögeln mit vorübergehenden Aktivierungen von weit reichenden neuronalen Netzwerken verbunden sind“, betonen die Neurowissenschaftler.
Die aktivierten Netzwerke der Vögel ähneln also denen von Säugetieren – auch wenn es einige Unterschiede gibt: So halten einige nahrungsammelnde Vögel Gedächtnisrekorde unter den (nicht-menschenartigen) Tieren – was ihnen einen Überlebensvorteil verschafft. Und sie nutzen andere Hirnregionen (Hippocampus), um sich an ihr Futterversteck zu erinnern.
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